Kinderängste verstehen – Kinderängsten begegnen

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Wer kennt sie nicht? Die Monster unter dem Bett, die Angst und Schrecken einjagen. Die Angst vor der Dunkelheit….

Menschen haben vor unterschiedlichen Dingen Angst. Das ist bei Kindern nicht anders.
Um Kindern in ihrer Angst entwicklungsförderlich begegnen zu können, muss man zunächst selbst verstanden haben, was Angst ist, welche Auslöser sie im Kindesalter haben kann und wie sich Angst für ein Kind anfühlt.

Entwicklungsbedingte Ängste und die „Magischen Jahre“

Es gibt ein Alter, in dem Ängste vermehrt auftreten. Wir nennen es die „magischen Jahre“ – eine Zeitspanne, die sich etwa vom 2. bis zum 5. (manchmal auch 6.) Geburtstag erstreckt. Diese Entwicklungsphase heißt so, weil Kinder sich im so genannten „magischen Denken“ befinden. Realität und Phantasie scheinen sehr eng verwoben zu sein, oft gar nicht zu trennen. Die Monster, Geister, Drachen, Löwen und anderen wilden Kreaturen sind für die Kinder real. Die Angst vor Dunkelheit steht auch hiermit in Zusammenhang. Alle ihre Welterklärungen sind angereichert mit diesem magischen Denken, das in einem Zusammenspiel mit dem kindlichen Egozentrismus steht (d.h. alles hat seine Erklärung in dem, was das Kind macht): Die Sonne scheint, damit das Kind draussen spielen kann, usw. Angereichert durch das magische Denken ist in dieser Phase praktisch alles möglich: Das Kind hat Superkräfte, Spielsachen sind lebendig, Dinge können verschwinden, fliegen, wachsen und schrumpfen,….

Das kann faszinieren, aber verständlicherweise auch ängstigen.

Das magische Denken hört nicht ganz plötzlich auf und wird dann vom realistischen Denken abgelöst. Es handelt sich eher um eine Umstellungsphase, die etwa bis zum 7. oder 8. Lebensjahr dauern kann. Zwischen dem 5. und 6. Geburtstag sind die Kinder nur kognitiv in der Lage, diesen Wechsel stattfinden zu lassen und es kommt nach und nach zu einem „Verschwinden“ der „magischen Logik“.

Entwicklungsbedingten Ängste stehen in einem engen Zusammenspiel mit der kognitiven Entwicklung. Was kann ein Kind bereits wahrnehmen? Wie erlebt ein Kind die Welt? Was versteht ein Kind von seiner Umwelt und wie versteht es diese?

Eine der ersten Ängste, die Eltern in der Entwicklung ihres Kindes wahrnehmen, ist das „Fremdeln“. Babys können sehr schnell ihre Mutter am Geruch erkennen und bevorzugen diesen. Bis zum Alter von etwa 6 Monaten sind sie jedoch sehr offen für jeden Menschen, der sich ihnen freundlich nähert. Erst um den 7. Lebensmonat herum beginnt das typische „Fremdeln“. Das Baby hat gelernt, Gesichtszüge usw. abzugleichen und jeder, der nicht die primäre Bezugsperson ist, wird abgelehnt.

Eine weitere entwicklungsbedingte Angst betrifft den eigenen Körper und dabei vor allem den Ausscheidungsvorgang. Kinder nehmen ab etwa dem 3. Lebensjahr ihren Körper ganz anders wahr. Einigen Kindern macht der Ausscheidungsvorgang Angst: was passiert da in meinem Körper? Wo kommen meine Ausscheidungen hin, die da in diesem Loch verschwinden? Könnte ich da auch hinuntergespült werden und verschwinden?

Auch die Angst vor „Vernichtung“ ist eine der entwicklungsbedingten Ängste. Kinder erleben zunehmend ihre Abhängigkeit von Erwachsenen, aber auch von der Umwelt bewusster. Sie realisieren mit etwa 5 Jahren, dass sie alleine nicht überleben würden. Das weckt die Befürchtung, dass die Versorgung aufgegeben wird. Kinder sind dann besonders anhänglich, wollen oft nichts mehr selbst machen und fordern die absolute Umsorgung erneut ein. Für viele Eltern sieht das nach einem dramatischen Rückschritt aus, der unterbunden werden muss. Für Kinder ist es aber so eine Art „letzte“ Absicherung, dass sie wirklich auf den Rückhalt der Eltern, bzw. Bezugspersonen zählen können. Sie können sich dann auf neue Herausforderungen (in dem Alter steht der Schuleinritt bevor) besser einlassen. Diese Angst vor „Vernichtung“ ist das große Thema der „Sechsjahreskrise“: Kinder beschäftigen sich mit Leben und Tod; fangen an zu verstehen, dass das Leben endlich ist, dass auch Mama und Papa irgendwann sterben werden – und in letzter Konsequenz auch sie selbst.

Wie sich Angst für ein Kind anfühlt

Angst ist für Kinder

• unvermittelt, also plötzlich da
• nicht zu kontrollieren und übermächtig (Kontrollverlust)
• gefährlich (keine Handlungsfähigkeit aufgrund der Abhängigkeit)
• nicht infragezustellen, es ist also nicht verhandelbar, ob das Kind Angst hat oder nicht
• etwas Körperliches, keine Gedanken
• etwas Wesentliches (zum Beispiel ein Monster, etwas in der Dunkelheit, ein Arzt usw.).

Kinder wissen nicht, dass es sich bei Ängsten um Gedanken und Gefühlseindrücke handelt, und dass man diese steuern kann. Man kann nicht darauf setzen, dass Kinder von Anfang an Lösungsstrategien finden. Es ist ein wenig wie bei der Bindung: je enger die Bindung, desto höher der Wille, Neues zu entdecken – so auch: je besser und tiefer die Unterstützung ist, desto eher können sich Selbstheilungskräfte bilden. Ein Kind alleine zu lassen führt nicht dazu, dass es Vertrauen in die eigenen Kräfte entwickelt.

Was braucht ein Kind von uns Erwachsenen?

Eigentlich ist es ganz einfach: immer wenn es um Stress, Unsicherheit, Angst, usw. geht, brauchen Kinder ihren „sicheren Hafen“, ihr „Nest“. Sie benötigen das Gefühl, vollkommenen Rückhalt zu haben und mit ihren Sorgen und Nöten wahrgenommen zu werden. Nur so können sie Vertrauen in sich und die Umwelt erlangen. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu haben ist die Basis, um mit belastenden Situationen umgehen zu können. Nur wenn das Kind davon überzeugt ist, selbst einen Weg zu finden, kann es sich kompetent fühlen und sieht sich nicht nur in der Opferrolle. Gerade Ängste sind Gefühle, die unvorhergesehen aufkommen und zunächst unkontrollierbar erscheinen.  Kinder können das zunächst nicht in vollem Umfang alleine meistern. Sie sind auf Bezugspersonen angewiesen, die sie in der Lösung des Problems unterstützen und begleiten.

Wie können Kinder nun unterstützt und begleitet werden?

Kinder ernst nehmen

Der wichtigste Punkt ist jener, dass Kinder sich mit ihren Sorgen, Ängsten und Nöten ernst genommen fühlen müssen. Negierung oder Beschwichtigung der Angst führt nur dazu, dass das Kind sich missverstanden fühlt und noch einsamer. Es fühlt sich klein und unwirksam. Zudem bekommt es den Eindruck, dass mit ihm etwas nicht stimmen würde, wenn es Angst hat, obwohl die Bezugsperson sagt „Du brauchst keine Angst haben“.

Das hört sich zunächst sehr einfach oder logisch an, im Alltag ist es meist dann doch nicht so klar. Wie oft hat man sich gedacht, dass das mit den blöden Monstern doch mal aufhören soll oder dass es nur eine Ausrede eines Kindes wäre, um z.B. etwas nicht aus dem Keller holen zu müssen. Die rationale Sicht von Erwachsenen erschwert es häufig, wirklich bei der Sorge des Kindes zu bleiben. Ja, wir „Großen“ wissen, dass da kein Monster die Toilette bewacht, keine Gespenster im Kleiderschrank sitzen, usw. Es stört vielleicht auch einmal unsere Tagesroutine, wenn wir plötzlich mit 5-jährigen Kindern wieder zur Toilette gehen müssen, obwohl sie das doch schon länger ohne Hilfe konnten. Aber seien Sie sicher, alle rationalen Argumente prallen am Kind einfach ab – entwicklungsbedingt kann es sie einfach nicht aufnehmen.

Rollenspiele

Kinder lernen im Spiel und verarbeiten spielerisch ihre Erlebnisse. Gerade für Kleinkinder sind ihre Vorstellungen genauso real wie der letzte Zoobesuch. Es macht für sie keinen Unterschied, ob in ihren Gedanken die Monster in der Badewanne sitzen und es fressen möchten oder ob es die Beobachtung der schwimmenden Pinguine im Zoo verarbeitet.

Wenn man wissen möchte, was Kinder bewegt, dann ist es ratsam, das Freispiel der Kinder zu beobachten. Welche Themen kommen immer wieder vor? Welche Wörter werden gewählt, welche Gefühle kommen im Spiel zum Ausdruck?

Kinder, die gerade mit Ängsten konfrontiert sind, spielen häufig den Auslöser nach, versuchen Geschichten zu erfinden, wie ein Erlebnis noch hätte ausgehen können, stellen Fragen zu dem Ereignis. Rollenspiele eignen sich sehr gut, da das Kind auch aus der Opferrolle aussteigen kann. Es kann auch einmal das Monster spielen und seine Kuscheltiere fressen. Und muss nicht immer der bleiben, der Angst haben muss gefressen zu werden.

In Rollenspielen können nicht nur Situationen aufgearbeitet, sondern Situationen, die in der Vergangenheit Angst ausgelöst haben, vorbereitet werden (z.B. der nächste Arztbesuch).

Kinder lernen so Strategien kennen, die ihnen helfen, mit Ängsten umzugehen. Das kann auf der Realebene angesiedelt sein (Kinder erfahren, dass es Erwachsene gibt, zu denen sie kommen können, die trösten und sie unterstützen), das kann aber auch auf Phantasie- bzw. Spielebene erfolgen (ein Zauberspruch, Ausrüstung wie ein „Monsterspray“,…) – man gibt dem Kind also etwas „an die Hand“, das für das Kind handfest ist und in seiner Welt funktioniert, um das Problem selbst lösen zu können. Damit wird die Kompetenz des Kindes, mit Problemen umgehen zu können, gestärkt.

Warum helfen Geschichten?

Geschichten helfen Kindern, mit ihren Erfahrungen, Erlebnissen, Vorstellungen, Ängsten etc. umzugehen. Ängste spielen sich im Kopf ab. Für Kinder ist Angst jedoch rein körperlich. Sie sehen sie nicht als Gedanken an, den man steuern kann. Wenn Kinder lernen, an sich selbst zu glauben, wenn sie eine neue Perspektive kennenlernen (z.B. im Buch „Monsteren am Gaart“), wenn sie Selbstvertrauen aufbauen können, dann lösen sich Ängste. Kinder können all das aus Geschichten mitnehmen. Deshalb helfen Kindern Geschichten, die Ängste, Unsicherheit usw. thematisieren.

Nähe und Interaktion

Vorlesen und Erzählen bietet Kindern die Nähe und Geborgenheit, die sie benötigen, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie können sich zu einer vertrauten Person kuscheln, auf den Schoß setzen und „auftanken“. Vorlesen, Bilderbücher ansehen, Erzählen und darüber sprechen führt zu einer Interaktion, die Kindern Mut machen kann.

Identifikation mit den Figuren

Kinder steigen zumeist sehr tief in erzählte bzw. vorgelesene Geschichten ein. Dabei identifizieren sie sich mit Akteuren aus den Geschichten. Gut erzählte Geschichten erkennt man daran, dass sich Kinder quasi automatisch mit jener Figur identifizieren, die für das gewählte Thema zentral ist. Das klingt logisch, wenn der Hauptakteur der Geschichte der Held ist, aber auch mit ängstlichen, unsicheren Charakteren kann diese Identifikation stattfinden. Sie finden sich mit ihren Erfahrungen und Gefühlen in diesen Figuren wieder. Wesentlich ist, dass die Identifikationsfigur kompetent ist. Sie schafft es, von sich aus eine Lösung zu finden (die kann auch sein, sich Hilfe oder Unterstützung zu suchen. Es geht nicht darum, dass das Kind alleingelassen ist!).

Ende gut, alles gut

Für Kinder muss am Ende einer Geschichte eine Auflösung der Spannung da sein. Alles geht gut aus.

Gute Geschichten für Kinder haben zumeist auch eine Botschaft für Erwachsene. Wie fühlt sich Angst für Kinder an? Wie denken Kinder? Was benötigen Kinder jetzt (z.B. Zeit, Verständnis, keinen Druck,….)?

Julia Strohmer,
Pädagogin

Artikel aus unserer Elternzeitschrift « baby info » 01/2019


Leseempfehlung:
Keine Angst vor Löwen – Heinz Janisch, Katja Gehrmann, Beltz Verlag 2017.