Rückkehr zur Brust durch intuitives Stillen

Danielle kontaktiert mich mit dem Anliegen, ihre zwei Wochen alte Tochter wieder direkt an der Brust stillen zu wollen. Nach der Geburt hat das Stillen noch einigermaßen geklappt, aber mit dem Milcheinschuss sind ihre Brüste angeschwollen und Lara gelang es nicht mehr an der Brust zu trinken.

Alle Versuche des Personals, die Kleine an die Brust zu bekommen, sind gescheitert. Danielle hat mir unter anderem berichtet, dass Lara durch Anfassen und Pressen des Hinterkopfs an die Brust gedrängt wurde, damit sie endlich trinkt. Selbst wenn diese Versuche vielleicht gut gemeint waren, so ist ein solches Vorgehen meistens kontraproduktiv und viele Babys reagieren darauf mit Brustverweigerung. Zudem ist diese Methode auch für die Mütter traumatisch, da die Babys sich oftmals wehren und anfangen zu weinen. Danielle hat dann ziemlich schnell angefangen, ihre Milch abzupumpen und diese dann mit der Flasche gefüttert. Ihre Hoffnung war, dass es zu Hause in der gewohnten Umgebung einfacher wäre, Lara wieder an die Brust zu gewöhnen, was ihr trotz der Versuche mit Stillhütchen nicht so recht gelingen wollte. Ich mache meinen ersten Hausbesuch, als Lara etwa einen Monat alt ist und schlage Danielle spontan vor, das intuitive Stillen auszuprobieren.

Bei dieser Stillposition, die auch “zurückgelehntes Stillen” genannt wird, sitzt die Mutter zurückgelehnt, in einer halb sitzenden, halb liegenden Position auf einen bequemen Sessel, Sofa oder das Bett. Dabei ist sie auf einige Kissen gestützt, sodass sie sich in einer komfortablen Position befindet. Wichtig ist bei dieser Position, dass Kopf, Genick, Rücken und Arme gut gehalten sind und die Mutter sich so wirklich entspannen kann. Ihr Körper öffnet sich und bietet dem Baby eine große Auflagefläche. Das Baby wird bäuchlings auf ihren Bauch gelegt, entweder zwischen ihre Brüste oder auf eine Brust. Idealerweise ist der Oberkörper der Mutter frei und das Baby nur leicht bekleidet mit nackten Beinchen, damit es sich gut mit den bloßen Füssen abstoßen kann. Das Baby kann parallel zum Körper der Mutter, horizontal dazu oder etwas schief liegen. Da die Brust rund ist, sind theoretisch eine Vielzahl von Positionen rund um die Brust möglich: Das Baby kann die Brust wie ein Uhrzeiger aus allen Richtungen erfassen. Viele Babys fangen in dieser Position an, die Brust selbst zu suchen, indem sie sich mit den Füssen und Beinen abstützen und mit Hilfe der Arme und Hände zur Brust robben. Zuletzt hebt das Baby den Kopf (ja, sogar Neugeborene können das!), öffnet den Mund ganz groß und erfasst die Brust. Diese Stillposition ist aus dem sogenannten „Bonding nach der Geburt“ heraus geboren.

Die englische Lehr-Hebamme und Laktationsberaterin Suzanne Colson hat sich die Frage gestellt, warum das Anlegen unmittelbar nach der Geburt, in ebendieser Bonding-Phase, wenn das Baby auf den Bauch der Mutter gelegt wird und die Brust selbst suchen kann, meistens gut funktioniert. Und warum das Anlegen danach oftmals schwierig und in manchen Fällen sogar unmöglich ist. Sie ist diesem Phänomen in zahlreichen Untersuchungen nachgegangen und hat durch Video-Aufnahmen von 40 Müttern und ihren Babys folgendes herausgefunden: Babys haben etwa 20 verschiedene Reflexe, die im Zusammenhang mit dem Stillen stehen. Diese erleichtern das Anlegen, wenn das Baby sich in einer Position befindet, die es ihm ermöglicht, diese Reflexe zu nutzen. Colson hat herausgefunden, dass Babys sich idealerweise auf dem Bauch der Mutter befinden, damit ihre Reflexe zum Einsatz kommen. Sie konnte zudem feststellen, dass auch Mütter Reflexe haben im Zusammenhang mit dem Stillen. Sie reagieren instinktiv auf ihr Baby und helfen ihm so intuitiv beim Anlegen. Colsons Forschungen haben gezeigt, dass Mütter und Babys kompetent sind und genau wissen, wie das Stillen funktioniert, wenn die Voraussetzungen stimmen.

Bei meinem Hausbesuch möchte Danielle diese Position gerne ausprobieren. Lara macht anfangs gut mit, reagiert aber beim Erreichen der Brust etwas irritiert und verwirrt. Nach einigen vergeblichen Versuchen schlage ich vor, die vertrauten Stillhütchen zu benutzen, und siehe da: Lara erfasst die Brust und trinkt, als ob sie nie etwas anderes getan hätte. Sie trinkt sofort effektiv und so lange, bis sie sichtbar gesättigt die Brust loslässt. Seit diesem erfolgreichen Stillen ändert sich die Situation für Danielle und Lara grundlegend: Lara trinkt ab sofort bei jeder Mahlzeit an der Brust und Danielle kann das Abpumpen von einem Moment auf den anderen bis auf 1-2 Mal am Tag reduzieren. In der ersten Woche nach diesem anfänglichen Erfolg stillt sie noch mit Stillhütchen, in der zweiten Woche schafft sie es sogar, Lara von den Stillhütchen zu entwöhnen! Inzwischen wird Lara voll an der Brust gestillt und Danielle pumpt nur noch gelegentlich ab.

Wie wir an diesem Beispiel sehen, kann das intuitive Stillen auch dabei helfen, Babys, die bis dahin die Brust verweigert haben, wieder zur Brust zurückzuführen. In ihren Untersuchungen hat Suzanne Colson unter anderem herausgefunden, dass diese Stillposition auch bei schwierigen Stillsituationen als eine Art “Therapie” eingesetzt werden kann. Manche Babys öffnen in dieser Position den Mund weiter, erfassen die Brust korrekt, einige trinken in dieser Position sogar erstmals ohne Stillhütchen. Somit kann diese Stillposition bei Brustverweigerung, wunden Brustwarzen, Anlegeproblemen, Gewöhnung an Flaschensauger oder Stillhütchen hilfreich sein.

Die Vorteile dieser Position sind vielfältig:

  • Die Mutter befindet sich in einer sehr bequemen, entspannten Haltung, was auch zu einer vermehrten Oxytocin-Ausschüttung und somit zu Glücksgefühlen, Entspannung und schlussendlich zu einem besseren Milchfluss führt.
  • Das Baby liegt auf ihrem Bauch und wird von ihrem Körper getragen, sodass sie es nicht mit ihren Armen halten muss.
  • Die Mutter hat beide Arme und Hände frei für ihr Baby, um es zu streicheln und zu berühren.
  • Mutter und Baby können Blickkontakt halten.
  • Die reflexartigen Bewegungen des Babys, vor allem die Bewegungen mit den Armen und Händen, die in den “klassischen” Stillpositionen oft sehr stören, werden automatisch ausgelöst und sind in dieser Position hilfreich beim Finden und Erfassen der Brust.
  • Die Schwerkraft unterstützt das Anlegen, da das Baby zum Körper der Mutter hin und nicht von ihm weggezogen wird.
  • Die Mutter reagiert instinktiv auf alle Reaktionen ihres Babys; sie hilft ihm intuitiv an die Brust, wenn es Hilfe benötigt. Sie ist kompetent und braucht in dieser Position keine Anleitung von außen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das intuitive Stillen völlig neue Sichtweisen auf das Stillen bietet. Mütter und Babys sind kompetent: Sie brauchen keine “Anleitungen”, sondern nur die richtigen Voraussetzungen und etwas Unterstützung! Das intuitive Stillen ist die logische Fortsetzung des Stillens unmittelbar nach der Geburt (in der Bonding-Phase) und muss von Mutter und Kind nicht mühselig erlernt bzw. von außen angeleitet werden. Auch für die Stillberatung bedeutet das ein Umdenken in dem Sinn, dass weniger oft mehr ist und Mütter und Babys instinktiv wissen, wie das Stillen funktioniert. Nach der Geburt, und vor allem in den ersten Tagen und Wochen, ist das intuitive Stillen optimal. Mutter und Baby haben so automatisch viel Hautkontakt und die Mutter kann sofort auf ihr Baby reagieren, wenn es anfängt aufzuwachen und trinken möchte. So werden viele Anfangsprobleme vermieden und Mutter und Kind können das Stillen von Anfang an genießen.

Ute Rock
Die Autorin ist Laktationsberaterin IBCLC

Ein Artikel, der in der Elternzeitschrift „baby info“ veröffentlicht wurde (nr 2/2016)