Für das Leben stark machen – nicht hart!

In diesem Beitrag gehe ich davon aus, dass viele Umgangsweisen, die wir mit unseren Kindern an den Tag legen, von Phantasien, Wünschen und Ängsten getragen sind. Nicht immer ist dies hilfreich, wenn wir Kindern begegnen möchten. Allzu oft steckt darin die Idee, dass Kinder formbar sind und somit Eltern die Last tragen, wenn das Kind von gesellschaftlichen Normen abweicht. Ich plädiere dafür, dass nicht versucht werden soll, Kinder „abzuhärten“, sondern ihre Ressourcen gestärkt werden sollen, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Vom imaginären zum realen Kind

Spätestens in der Schwangerschaft, manchmal schon ab dem ersten Kinderwunsch, tritt das „imaginäre Kind“ ins Leben seiner werdenden Eltern. Diese haben Phantasien, Wünsche und Ängste, die sie auf ihr noch ungeborenes Kind projizieren. Sie malen sich aus, wie das Leben mit dem Kind sein wird, welche Charaktereigenschaften es haben wird, was es wohl beruhigen wird, welche Talente es haben wird, usw. Dieses imaginäre Kind trägt wesentlich dazu bei, dass Eltern sich auf ihre Rolle vorbereiten können und hilft auch in den ersten Minuten, Stunden und Tagen, eine Bindung zu dem dann realen Baby aufzubauen. Wesentlich ist, dass mit der Geburt des realen Babys das imaginäre Kind in den Hintergrund treten kann und darf. Es wird immer da sein, gespeist durch die eigenen Kindheitserfahrungen der Eltern, durch Wünsche und Ängste, aber im besten Fall macht es Platz für die Begegnung mit dem realen Kind. Bleibt dieser Schritt vom imaginären zum realen Kind aus, so können die elterlichen Projektionen die kindliche Entwicklung blockieren – zu hoch sind oft die Erwartungen an das Kind, Wünsche und Träume der Eltern weichen häufig erheblich von den Interessen des Kindes ab.

„Wir sollen unsere Kinder nicht als kleine Kopien unseres Selbst oder gar als Erweiterungen unseres Ichs betrachten, sondern als einzigartige Menschen mit unterschiedlichem Temperament, unterschiedlichen Gefühlen, Wünschen und Träumen.“ (Faber & Mazlish 2015, S.162)

Die Idee der „tabula rasa“

Historisch betrachtet gab es in der Psychologie und Pädagogik einst die Idee, dass das Kind wie ein „unbeschriebenes Blatt“ (tabula rasa) sei und dann durch die Eindrücke und Erfahrungen nach und nach „beschrieben“ oder „geformt“ werden würde. Das impliziert die Idee der Machbarkeit. Es folgten unzählige Abhandlungen, was denn nicht alles auf welche Art und Weise aus den Kindern gemacht werden kann und sollte. Heute ist diese Vorstellung wissenschaftlich überholt – eigentlich. In der Erziehungspraxis finden sich immer noch verschiedene Formen der Manipulation wieder. Damit meine ich nun nicht die Idee der Sozialisation (z.B. dass wir mit Kindern am Tisch essen oder ihnen vorleben, höflich oder hilfsbereit zu sein), sondern das Eingreifen von Erwachsenen, wenn Kinder sich anders verhalten als gewünscht. Das kann z.B. der Satz „Heul nicht immer rum“ sein, den ein Elternteil ausspricht, der sich immer ein mutiges, taffes Kind gewünscht hat oder „bleib doch mal eine Minute ruhig sitzen“, wenn die Idee vorherrschte, dass das Kind besonders ruhig oder zurückhaltend werden wird. Kindern, denen so begegnet wird, erfahren, dass sie sich nicht entfalten können, sondern geformt, bzw. in Rollen gedrängt werden. Ihnen wird vermittelt, dass sie so, wie sie sind, nicht gut sind und, dass jemand anderes als sie am besten weiß, wie sie sein sollten und wie sie so werden können. Die Selbstentwicklung des Kindes wird so behindert, es kann sich kein gesunder Selbstwert aufbauen.

Gefühle nicht negieren

Der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls ist ein wesentlicher Entwicklungsbaustein. Menschen, die sich selbst wertschätzen, die sich ihrer selbst bewusst sind, können die größeren und kleineren Schwierigkeiten und Herausforderungen, die einem das Leben stellt, zumeist gut bewältigen. Dafür ist es wichtig, dass Kinder mit sich und ihren Gefühlen in Kontakt sein können und dürfen. Erwachsene können dabei Kinder unterstützen, indem sie Äußerungen der Kinder ernst nehmen und je nach Alter des Kindes helfen, Worte für ihr Empfinden zu finden. Damit das stattfinden kann, ist es wesentlich, dass Gefühle nicht negiert oder beschwichtigt werden – z.B. mit alt bekannten Sätzen wie „Steh auf, es ist doch nichts passiert“ oder „Ist doch nicht schlimm, dass Peter nun deine Schaufel hat“. Für ein Kind, das gefallen ist, ist etwas passiert, selbst wenn es körperlich unversehrt ist. Es hatte sich vielleicht auf ein Spiel gefreut, wollte rasch hinlaufen und wurde durch den Sturz nun daran gehindert oder es hatte sich eine Aufgabe gestellt, wollte unbedingt auf einer Stange balancieren und bekommt durch einen Sturz die Rückmeldung, dass es diese Tätigkeit noch üben muss oder die Aufgabe, die es sich gestellt hat, noch zu schwierig ist. Das kann frustrieren, ängstigen oder wütend machen. Auf alle Fälle ist dem Empfinden des Kindes nach nicht „nichts passiert“. Die Mitteilung und sein Erleben passen nicht zusammen. So auch in dem Beispiel mit der Sandschaufel. Für ein Kind ist es vielleicht „schlimm“, dass nun ein anderes Kind mit seinen Sachen spielt, selbst wenn es, von außen betrachtet, die Schaufel gerade nicht gebraucht hat. Kommt ein Kind häufiger in solche Situationen, kann das dazu führen, dass es anfängt, an sich und seinen Gefühlen zu zweifeln.

Abhärten versus stärken

In diese Schiene passt auch die Idee, dass Kinder für die Zukunft abgehärtet werden müssten. Gerade Eltern, deren Kind besonders sensibel ist, werden häufig damit konfrontiert, dass ihr Kind es einmal schwer haben wird, wenn es immer behütet werden würde, wenn immer auf seine Bedürfnisse eingegangen wird. Wie bereits aufgezeigt, sind solche Überlegungen von der Idee der „tabula rasa“ getragen: Eltern könnten aus ihrem sensiblen Kind ja ein taffes Kind machen, wenn sie es nur richtig angehen würden.

Oftmals stecken hinter solchen Aussagen auch vermeintlicher gesellschaftlicher Konsens, wie Mädchen oder Jungen zu sein haben. Neben dem „persönlichen“ imaginären Kind gibt es auch so etwas, was ich „gesellschaftliches imaginäres Kind“ nennen möchte: weit verbreitete Übereinkünfte, wie Kinder zu sein haben. Passt ein Kind nicht in dieses Bild, so werden oft die Eltern dafür verantwortlich gemacht, nicht alles getan zu haben, damit das Kind den Normen entspricht. Leider wird es oftmals immer noch als von der Norm abweichend angesehen, wenn nicht alle Jungen mutig, stark und abenteuerlustig sind und nicht alle Mädchen ordnungsliebend, ruhig und angepasst. Versuchen verunsicherte Eltern nun, z.B. durch Beschwichtigungen oder das Negieren von Gefühlen ihr Kind zu manipulieren, damit es eben nicht weint, wenn ein anderes Kind mit seiner Schaufel spielt oder wenn es gefallen ist, teilen sie ihrem Kind jedes Mal mit „So wie du bist, bist du nicht gut“. Kinder übernehmen dies in ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl sinkt. Es verliert durch das Negieren seiner Gefühle nicht nur den Kontakt zu sich und seinem Empfinden, sondern es wird auch systematisch geschwächt und in eine Rolle gedrängt. Auf alle Fälle wird es so nicht gestärkt, um mit den Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen. Das eigentliche Ziel wird nicht nur verfehlt, sondern es wird genau das Gegenteil dessen erreicht, was beabsichtigt war.

Kinder sollten für das Leben stark und nicht hart gemacht werden. Sie sollen mit sich und ihren Gefühlen in Kontakt stehen und lernen mit Emotionen umzugehen. Das hilft ihnen im Leben weiter. Für das Leben hart machen führt nicht dazu, dass Kinder lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Kinder hart machen bedeutet vielfach, sie stumpf zu machen, sie taub zu machen für ihre Gefühlslagen. Somit können sie auch nicht empathisch sein. Das Leben sollte nicht als Kampf gesehen werden, für den Kinder abgehärtet sein müssen.

Starke Kinder – sichere Bindung und starke Gefühle

Von der ersten Minute an geht ein Baby mit seinen Bezugspersonen Bindungen ein. Eine Bindung kann, vereinfacht gesagt, sicher, unsicher oder ambivalent sein. Menschen sind fähig, zu mehreren Personen unterschiedliche Bindungen einzugehen. Bindung ist etwas, das wächst – und zwar ein Leben lang. In tausenden kleinen Momenten wird die Bindungserfahrung geprüft, angepasst und vertieft. Bindung ist nicht statisch, auch eine sichere Bindung muss immer wieder gefestigt, also durch Beziehungserfahrungen bestätigt werden. Eine sichere Bindung ist für ein Baby oder später auch für ein Kind eine Vertrauensbasis – ein Urvertrauen, ein Gefühl, dass die Welt gut ist.

Ist eine sichere Bindung keine Einschränkung für das Kind? Ist es dann nicht vielleicht überbehütet oder verwöhnt?

Die Angst vor Überbehütung (Stichwort Helikopter-Eltern) und Verwöhnung (Stichwort Tyrann) ist gegenwärtig vermehrt zu spüren. Um nicht zu weit abzuschweifen, kommentiere ich das in diesem Beitrag nicht weiter. Sichere Bindung hat damit jedoch nichts zu tun. Ein Kind, das sich sicher sein kann, geliebt zu werden und immer zu den Eltern kommen zu können, egal was geschehen ist, wird die Welt für sich entdecken. Es wird selbstbewusst Erkundungstouren machen (die mit zunehmendem Alter länger und weiter ausfallen), Dinge ausprobieren wollen und nach und nach selbstständig werden. Bindung und Neugierverhalten sind eng verknüpft. Auch wenn es zunächst abwegig klingt: eine anfangs enge Bindung führt zu Selbstständigkeit. Kinder, die früh auf sich alleine gestellt waren, deren Bedürfnisse (nicht Wünsche!) nicht umgehend befriedigt wurden, sind Menschen, die oftmals unsicher sind und die sich nicht trauen, ihre Eltern aus den Augen zu lassen. Es fehlt das Vertrauen, dass die Eltern immer für sie da sind, es besteht die Angst, dass, wenn es sie einmal loslässt, es nicht mehr zu ihnen kommen kann. Sicher gebundene, bedingungslos geliebte Kinder können loslassen und wiederkehren. Sie haben erfahren, dass sie in ihren Kompetenzen und Gefühlen ernst genommen werden. Kinder, die sich sicher sind, dass sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen, ohne dafür beschämt oder bestraft zu werden, lassen diesen oftmals sehr energisch ihren Lauf. Sie schreien, toben, weinen – weil sie:

  1. erfahren haben, dass es ihnen hilft, um mit den Gefühlen umgehen zu können
  2. wissen, dass sie mit ihren Gefühlen angenommen werden
  3. nach der heilenden Wirkung des Ausdrucks wieder positiv in die Zukunft blicken können.

Das stärkt die Kinder, weil sie erfahren, dass sie ihren Gefühlen vertrauen können, dass es normal ist, unterschiedlichste Gefühle zu verspüren und sie es selbst in der Hand haben, ein Gefühl auch wieder loszulassen – das stärkt das Selbstbewusstsein und den Selbstwert eines Kindes. Kinder, die ihren Gefühlen und Fähigkeiten vertrauen können, können oftmals Risiken besser abwägen, wissen, wann sie sich Hilfe holen möchten und wie sie diese dann auch bekommen. Sie sind neuen Situationen gegenüber meist aufgeschlossener. Sie haben häufig keine große Angst davor, zu scheitern, weil sie wissen, dass auch nach dem Ärger oder der Wut, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert, ein neuer Versuch gestartet werden kann. Selbstbewusste Kinder stellen sich Aufgaben, die sie versuchen, zu bewältigen. Sie verfügen über einen hohen Grad an Eigenmotivation. So können sie dem Leben und seinen Herausforderungen positiv gestimmt begegnen.

Stärken Sie die Ressourcen Ihres Kindes!

 

Julia Strohmer
Pädagogin – www.erziehungsfragen.lu


Literatur

Faber, Adele & Mazlish, Elaine (2015). So sag ich’s meinem Kind. Wie Kinder Regeln fürs Leben lernen. München: Oberstebrink.