Geburtseinleitung und -beschleunigung

Geburtsroutinen: Geburtseinleitung und -beschleunigung

Die Entwicklung der Geburtsmedizin in den letzten Jahrzehnten hat dazu geführt, dass heutzutage die meisten Kinder im Krankenhaus zur Welt kommen und dass bei der Mehrzahl der Geburten viele Untersuchungen und Eingriffe routinemäßig zur Anwendung kommen. Die Gründe dafür sind vielfältig, haben aber oft mehr mit  Krankenhausorganisation, den Arbeitsabläufen im Kreißsaal und rechtlicher Absicherung zu tun als mit der individuellen Geburtssituation. Physiologische Geburten, bei denen die Wehentätigkeit von selbst einsetzt und bei denen keinerlei medizinische oder medikamentöse Eingriffe erfolgen, sind zur Seltenheit geworden.

„Wir könnten die Geburt jetzt auch einleiten, wenn Sie damit einverstanden sind ». So lautet ein ärztlicher Vorschlag, mit dem manche Frauen/Paare sich gegen Ende der Schwangerschaft auseinandersetzen müssen; und dies möglicherweise schon vor dem errechneten Geburtstermin.
Dieses Angebot könnte bei den werdenden Eltern, denen die Planbarkeit dieses Ereignisses entgegenkommt, durchaus Anklang finden. Insbesondere, wenn die Schwangerschaft zunehmend beschwerlich wird. Dabei sind die werdenden Eltern meist nicht ausreichend über medizinische Indikationen für eine Geburtseinleitung sowie deren mögliche Nachteile informiert. Die WHO empfiehlt, dass Geburtseinleitungen nur bei medizinischer Indikation vorgenommen werden sollen. In Luxemburg werden 30% der Vaginalgeburten eingeleitet und zusätzlich 41% der Geburten medikamentös beschleunigt. In den wenigsten Fällen liegt dafür tatsächlich eine medizinische Indikation vor.

Wir sind froh, heutzutage Ärzte und medizinisches Personal zu haben, die in Notsituationen Leben retten können. Schwangerschaft und Geburt jedoch sind ganz natürliche Vorgänge, während derer erst eingegriffen werden sollte, wenn wirklich ein medizinischer Notfall vorliegt. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass es normalerweise am sichersten ist, dem Geburtsprozess einfach seinen Lauf zu lassen. Babys haben weder einen Terminplan noch eine Uhr im Bauch der Mutter, der ihnen den vom Arzt berechneten Geburtszeitpunkt mitteilt. Die Geburt wird durch eine Wechselwirkung zwischen mütterlichen und kindlichen Hormonen in Gang gesetzt, wobei das Signal normalerweise vom Baby ausgeht, wenn dessen Organismus vollständig ausgereift ist. Nichtsdestotrotz werden viele Geburten vor oder am ausgerechneten Termin künstlich eingeleitet oder nur wenige Tage danach. Laut Definition der WHO ist die Zeitspanne
zwischen der vollendeten 37. und der vollendeten 42. Schwangerschaftswoche die mögliche Geburtszeit. Erst ab der 43. Woche gilt ein Baby als « übertragen », und eine Einleitung wäre dann sinnvoll. Auch wenn das Kind im Bauch der Mutter unterversorgt ist oder bei der Mutter ein Notfall vorliegt, muss gehandelt werden.

Der errechnete Geburtstermin und sein Unsicherheitsfaktor 
Der Geburtstermin wird ermittelt aufgrund der letzten Regelblutung der Frau (wobei es individuelle Abweichungen bei der Zyklusdauer gibt) und Durchschnittsrechnungen, die sich aus dem Bauchumfang, Kopfumfang und der Femurknochenlänge des Kindes ergeben (ein Kind, das einen überdurchschnittlich großen Kopf hat, müsste dieser Rechnung nach also einige Tage früher zur Welt kommen). Des Weiteren hat jede Frau ihre eigene « Ausbrutzeit ». Bei manchen sind das 38 und bei anderen 42 Wochen. Etwa 40% der Babys werden später als am errechneten Termin geboren. Ein Kind, das durch eine Geburtseinleitung aus der Gebärmutter gezwungen wird, ist möglicherweise noch gar nicht zum Geborenwerden ausgereift. Vielleicht hätte es noch ein paar Tage bis zum richtigen Zeitpunkt gebraucht.
Daher ist es wichtig, dass die Mutter während der Schwangerschaft und besonders am Ende derselben dem Geburtsbeginn gelassen entgegen blickt, positiv gestimmt bleibt und sich nicht zu sehr auf ein Datum fixiert. Sie und ihr Partner sollten möglichst entspannt den ersehnten Moment der Geburt abwarten. Manchmal scheinen die Babys auch zu wissen, dass die Mutter noch nicht bereit ist. Vielleicht fühlt sie sich gestresst und gibt auf hormonellem Weg das Signal an ihr Baby, dass sie jetzt « keine Zeit » zum Gebären hat.

Wie wird eingeleitet?
Zum künstlichen Einleiten wird oft ein Gel oder eine Pille zur Zervix gebracht, die den Gebärmutterhals geburtsreif machen soll. Meistens wird der Frau dann zusätzlich künstliches Oxytocin intravenös verabreicht. Die Fruchtblase wird aufgestochen und von einem natürlichen Geburtsverlauf kann nicht mehr die Rede sein. Vom vorzeitigen Öffnen des schützenden Kokons ist generell abzuraten, da es zu fötalem Stress führen kann und das Infektionsrisiko durch Keime ansteigt. Für die Mutter werden die Wehen dann meistens intensiver und schmerzhafter.

Was sind die Risiken bei Einleitung oder Geburtsbeschleunigung?
Die Gebärmutter kann durch das Verabreichen von Einleitungsmedikamenten überstimuliert werden. Die Muskeln arbeiten dann viel intensiver, die Wehen folgen näher aufeinander und die Wehenpausen werden verkürzt, was zu fötalem Stress führen kann. Meistens werden die Mütter nach einer Einleitung per CTG dauerüberwacht und haben so deutlich weniger Bewegungsfreiheit, was sich negativ auf die Effizienz ihrer Kontraktionen und die Wehenverarbeitung auswirken kann. Möglicherweise ist somit eine Entwicklung eingeleitet, welche nicht mehr den Wünschen der Eltern und ihrem Geburtsplan Rechnung trägt.

Viele Frauen berichten, dass eine eingeleitete Geburt generell schmerzhafter sei. Häufig wird in der Folge zur Periduralanästhesie gegriffen, was wiederum weitere Konsequenzen nach sich zieht. Die Mutter muss ab diesem Moment meistens liegen und kann sich nicht mehr frei bewegen. Des Weiteren wird die natürliche Endorphinausschüttung (natürliches körpereigenes Schmerzmittel) gehemmt, da die Mutter die Wehentätigkeit nicht mehr spürt. Das Kind erhält dieses wichtige körpereigene Schmerzmittel so auch nicht mehr. Eine eingeleitete Entbindung birgt das Risiko weiterer Eingriffe zur Geburt (Einsatz von Saugglocke oder Zange inklusive Dammschnitt oder aber Kaiserschnitt), vor allem bedingt durch absinkende Herztöne des Babys. Zu bemerken ist noch, dass bei Frauen mit vorangegangenem Kaiserschnitt ein erhöhtes Risiko besteht, dass das Narbengewebe durch die kräftigeren Wehen reißt. Geburtseinleitung, PDA und andere Eingriffe in den natürlichen Geburtsverlauf können auch einen negativen Einfluss auf das Stillen haben. Michel Odent (französischer Arzt und Geburtshelfer) und andere Fachleute warnen vor den Risiken der Geburtseinleitung und Beschleunigungsmaßnahmen, da das natürliche Hormoncocktail vor allem von Oxytocin und Endorphinen erheblich gestört wird, was wiederum Folgen für die Mutter-Kind Bindung haben kann.

Dieses « industrialisierte Gebären », wie Odent es gerne nennt, könnte fatale Folgen für unsere zukünftigen Generationen haben, denen diese Hormone der Liebe während der Geburt gefehlt haben. Er befürchtet eine höhere Kriminalitätsrate, vermindertes Mitgefühl für seine Mitmenschen und eine größere Suizidgefährdung.

Experten der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) haben Leitlinien für Ärzte ausgearbeitet, die bei einer normalen Schwangerschaft ebenfalls empfehlen, frühestens ab der vollendeten 41. Schwangerschaftswoche eine Geburtseinleitung anzubieten und erst ab 41 Wochen plus 3 Tagen diese Maßnahme zu empfehlen. Während dieser Zeit sollen dieser Empfehlung nach regelmäßige CTG Kontrollen durchgeführt werden (andere Fachleute und
Studien stellen allerdings deren Sinn infrage). Erst nach vollendeten 42 Schwangerschaftswochen wird wegen Übertragung eine medizinische Indikation für Geburtseinleitung oder Kaiserschnitt gestellt. Insgesamt sollte man sich sehr gut überlegen, ob eine Einleitung wirklich vonnöten ist. Niemand würde auf die Idee kommen, die Blütenknospe einer Blume vorzeitig zu öffnen. Und niemand würde den Schmetterlingskokon vorzeitig aufbrechen… Warum denn bei unseren Babys ?

Sandy Weinzierl-Girotto

(Artikel aus „baby info“ 04/2015)