Gedanken zum Langzeitstillen…

Sowohl WHO wie auch UNICEF empfehlen nach wie vor ein Baby 6 Monate voll zu stillen und es danach parallel zu adäquater Beikost bis zum 2. Lebensjahr oder länger zu stillen. Damit gilt von beiden Organisationen eine weltweite Empfehlung, Babys bis ins Kleinkindalter zu stillen, was vielen befremdlich erscheinen mag. Wenn die Mutter das Abstillen dem Kind überlässt, kann das eine Stillzeit bis zum Alter von 3-4 Jahren oder sogar noch länger bedeuten.

Weil das Stillen üblicherweise nur mit einem Säugling bis maximal 6 Monate assoziiert wird, passt ein krabbelndes, gar herumlaufendes Kleinkind, welches sich selbst an der Brust bedient, nicht ins Schema unserer westeuropäischen Kultur.

In meiner langjährigen Stillpraxis begegnen mir immer wieder Mütter, die ihr Einjähriges noch stillen und von ihrer Umwelt als Sonderlinge abgestempelt werden. Sie müssen sich so allerhand anhören und werden manchmal sogar angefeindet. So hatte ich erst heute Morgen einen Anruf von der Mutter eines einjährigen Kleinkindes, die mir berichtet hat, dass sie jetzt doch über das Abstillen nachdenkt – obwohl sie gerne weiter stillen möchte – weil ihr Umfeld sie zunehmend unter Druck setzt. “Einmal musst du doch aufhören, kein Wunder dass du so müde bist, du verwöhnst das Kind”, usw. bekommt sie dann zu hören. In einem längeren Gespräch hat sich herausgestellt, dass diese Äußerungen von Leuten kommen, die eigentlich recht wenig über das Stillen informiert sind. Ich habe die Mutter dazu ermutigt, ihrem Instinkt zu folgen und das zu tun, was sie selbst für richtig hält.

Man kann sich die Frage stellen, warum dieses Thema die Gemüter immer wieder derart erhitzt? Denn das natürliche Abstillalter des Menschen liegt laut der  amerikanischen Anthropologin Katherine A. Dettwyler zwischen 3 und 7 Jahren! Die Forscherin hat verschiedene Kriterien, die sie beim natürlichen Abstillalter von Säugetieren herausgefunden hat, auf den Menschen übertragen. Laut ihren Berechnungen kam sie zu der Schlussfolgerung, dass das natürliche Abstillalter eben bei 3 bis 7 Jahren liegt, was eine völlig neue Sichtweise ermöglicht. In anderen Ländern und Kulturen wird ebenfalls länger gestillt und gehört einfach zum Alltag dazu.

Beim Stillen von Kleinkindern gelten die Vorteile der Muttermilch nach wie vor. Auch ein Kleinkind ist noch gegen Infektionen geschützt, da es weiterhin die Antikörper mit der Muttermilch erhält. Manche Antikörper steigen sogar im Kleinkindalter noch an, so wie das IgA, IgG und das Lysozym, welches man mit einem Breitbandantibiotikum vergleichen kann. Auch das Laktoferrin, welches die Aufnahme des Eisens in der Muttermilch optimal unterstützt, zeigt steigende Werte mit der Länge der Stilldauer. All das bedeutet, dass das Kleinkind, welches durch seine zunehmende Mobilität vermehrt mit Mikroben in Kontakt kommt, auch weiterhin gut durch das Stillen geschützt ist. Zudem können bis zu etwa einem Jahr noch etwa bis zu 70% der Gesamtenergieaufnahme aus der Muttermilch bestritten werden. Bis zum Alter von etwa 2 Jahren sind es noch etwas über die Hälfte, ungefähr 54%. Das heißt, dass die Muttermilch aus ernährungsphysiologischer Sicht gesehen noch immer eine wichtige Rolle spielt. Ein weiteres Argument für das Langzeitstillen besagt, dass Kleinkinder im Alter von 13 bis 18 Monaten bei gleicher Nahrungsmenge etwa 25% mehr Energie als nicht gestillte Kinder erhalten. Bei älteren Stillkindern sind es noch 17% mehr Kalorien. Denn Muttermilch hat 70 Kilokalorien pro 100 ml, ein Obst- oder Gemüsebrei etwa die Hälfte.

Bei allem darf aber der emotionale Aspekt des Stillen nicht vergessen werden! Ein Kleinkind zu stillen bedeutet vor allem, ihm durch das Stillen Liebe, Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Vielleicht ist es gerade dieser Aspekt, der manchem so befremdlich erscheint, denn ein Kleinkind braucht das Stillen aus rein  ernährungsphysiologischer Sicht ja nicht mehr unbedingt! Langzeitstillende Mütter wissen jedoch gerade diese Seite des Stillens sehr zu schätzten! In der schwierigen “Trotzphase” des Kleinkindes ist das Stillen eine  Insel der Harmonie für Mutter und Kind, wo beide zur Ruhe finden können. Gestillte Kleinkinder zeichnen sich oft durch ihre Persönlichkeit und frühe Unabhängigkeit aus – ganz im Gegenteil zu dem was oft behauptet wird: “Dein Kind kann ja nicht unabhängig werden!”.

Ein Kleinkind, welches lange genug von seiner Mutter abhängig sein durfte, kann durch das „Tanken“ von genug Liebe, Geborgenheit und Vertrauen zu gegebener Zeit unabhängig werden! Hoffen wir, dass auch in Luxemburg ein Mentalitätswandel stattfindet und wieder mehr Kleinkinder gestillt werden!

Ute Rock,
Laktationsberaterin IBCLC

(Artikel aus „baby info“ 10/2017)


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