Nicht nur Kinder lernen fürs Leben

Elternschaft und Piklerpädagogik

Erziehung, oder besser noch Begleitung des Kindes, entsteht automatisch, sobald man zu Eltern wird. Doch wie kann man wissen, wie sich unser Umgang mit unseren Kindern auf ihr späteres Leben auswirkt? So manches stellt man infrage, spätestens dann, wenn man das Gefühl hat, dass nicht alles so rund läuft wie man es sich vorgestellt hat.

Eine kleine Zeitreise
„Wie entwickelt sich mein Kind? Wie möchte ich mein Kind begleiten, oder habe ich Ziele für mein Kind? Welche Ziele habe ich? Welche Phasen wird es durchlaufen? Wie verhalte ich mich als Elternteil in den verschiedenen Zeiten der Kindesentwicklung? Wie lange dauert es überhaupt, bis die Gehirnentwicklung abgeschlossen ist?“ Stelle ich mir zum Anfang eines neuen Lebens diese Fragen?
Nun sind meine Kinder schon länger aus dem Haus, dennoch lerne ich auch heute noch sehr viel durch sie hinzu. Es kommen mir stets noch Fragen auf, die ich dann reflektiere und eventuell mit meinen Kindern bespreche, wie sie darüber denken und wie ihre Sicht dazu ist. Mir ist es sehr wichtig, einen respektvollen Umgang mit ihnen zu pflegen.

Ob ich mir damals, als sie noch klein waren, schon Gedanken gemacht habe, wie ich meine Kinder begleiten möchte? Ich denke eher nicht. Doch vielleicht war mir das in meinem Unterbewusstsein schon früh klar. Vor etlichen Jahren konnte ich meinen Wunsch, den ich für meine Kinder damals hatte, endlich ausdrücken. Ich wünschte mir für sie ein selbstständiges, autonomes Leben, gefüllt mit ihren Ideen und Gedanken. Das bedeutete und bedeutet auch heute noch für mich, dass ich versuche, sie mit meiner Liebe aufwachsen zu lassen und mich eigentlich noch immer überraschen lasse, wo ihre Interessen liegen, was sie gerne machen möchten und wie sie sich entwickeln. Es ist für mich natürlich auch wichtig, ihnen in ihren jeweiligen Situationen Feedback zu geben. Heute erhalte ich selbstverständlich noch mehr Antworten auf meine Fragen von ihnen, mit denen ich etwas anfangen kann (oder auch nicht).

Als meine Kinder klein waren, habe ich tatsächlich versucht, die Umgebung mit ihren Spielgegenständen zu gestalten, und sie konnten von Beginn an „ihr Spiel spielen“. Uns begleitete ein gewisser Alltagsrhythmus, der relativ entspannt war, bis zu dem Moment, als ich anfing zu arbeiten. Das bedeutete für mich eine unglaubliche Organisation des alltäglichen Lebens, und ich denke, so geht es vielen Eltern in der heutigen Zeit. Früher haben die Mütter öfter im eigenen Haus gearbeitet und nicht, wie es seit den letzten Jahren ist, außer Haus.

Doch eigentlich geht es um die Frage, ob gewusst ist, wie das, was den Kindern in frühen Jahren an Bindung und Beziehung gegeben wird, sich auf ihr späteres Leben auswirken kann?

Dabei stelle ich mir auch noch die Frage, wie viel Förderung und welche Art von Förderung sich später auf mein Kind wie auswirken. Viele Faktoren spielen bei der Entwicklung des Kindes eine Rolle, nicht nur die Beziehung, sondern auch die Art und Weise, wie wir mit dem Kind umgehen. Diese Thematik hängt für mich auch mit der Beziehungsarbeit zusammen.
Es ist schon sehr lange bekannt, dass eine bindungs- und beziehungsorientierte Erziehung (bzw. eher Begleitung) das Beste für das Kind ist, damit es im späteren Leben aller Wahrscheinlichkeit nach sicher und gestärkt seine eigenen Wege gehen kann. Eine gesunde Beziehung beinhaltet gerade in den späteren Jahren, dass unsere Kinder Vertrauen zu uns haben werden und sich an uns wenden können, falls bei ihnen gerade etwas nicht gut läuft.

In jüngeren Jahren, sicher in den ersten drei Jahren, bedeutet es, dass das Kind so akzeptiert werden möchte, wie es ist – und das gilt sicher nicht nur für die ersten drei Jahre, sondern eigentlich immer. Die ersten drei Jahre sind jedoch wichtig für den Aufbau einer gesunden Beziehung zu den Eltern und möglicherweise anderen Betreuungspersonen. Das Kind möchte, auch wenn es mal nicht „lieb“ ist, schlägt oder beißt, zumindest wohlwollendes Feedback erhalten und nicht mit Schuldgefühlen und/oder Kritik belastet werden. Denn dann fühlt es sich abgelehnt und nicht wirklich gesehen. Sollte ein Kind mal nicht „lieb“ sein, hat es meistens einen Grund, den wir als Erwachsene herausfinden dürfen, damit wir Verständnis für das Verhalten aufbringen können. Das bedeutet nicht, es gutzuheißen.

Junge Kinder lernen durch die Gegenwartssprache zu verstehen, was gerade geschehen ist. „Du hast Julia geschlagen, das tut ihr weh, und jetzt muss sie weinen. Ich möchte nicht, dass du ihr weh tust“, oder einfach nur: „du hast ihr wehgetan, jetzt weint sie“.
Kinder haben selbst ein großes Empathievermögen. In manchen Büchern steht, dass diese Eigenschaft sich etwas später entwickelt, doch ich sehe sie in meinen Kursen schon recht früh. So merken sie z.B. selbst, wann sie einen „Fehler“ gemacht haben, und versuchen oft, ihn wieder auszugleichen, nur halt nicht immer. Sollte es sehr schlimm sein, was geschehen ist, entschuldigt sich der Erwachsene für das Verhalten seines Kindes beim anderen Kind, doch es wird nicht verlangt, dass das Kind sich entschuldigt. So kann das Kind frei von dem Verhalten des Erwachsenen lernen und wird es wahrscheinlich als Heranwachsender selbst so handhaben, wie es ihm entspannt vorgelebt wurde. Sollte es dennoch bei dem älteren Kind nicht so sein, bedarf es einer Diskussion darüber, mit Erklärungen über das Warum und Wieso. Diskussionen können im jungen Alter vermieden werden, später werden sie jedoch umso mehr benötigt. Ab einem gewissen Alter möchten Kinder die Welt besser verstehen, dazu gehört auch: das Diskutieren und sicher auch eine gewisse Streitkultur zu erlernen.
Jüngere Kinder sind, wie auch wir, Lernende im Leben. Sie benötigen Zeit, um unsere Erwartungen kennenzulernen und ihnen freiwillig zu folgen. Wir lernen in dieser Zeit wahrscheinlich auch sehr viel über uns selbst dazu. Auch unsere Grenzen werden deutlich spürbarer für uns.

Übrigens ist die Gehirnentwicklung eines Kindes/ Jugendlichen/ jungen Erwachsenen erst mit 26 Jahren abgeschlossen, sodass erst ab dem Alter sichtbar werden kann, wie sich die Erziehung (eher noch Begleitung) durch uns auf den jungen Menschen ausgewirkt hat. In den Jahren dazwischen gibt es sehr viele Phasen, die das Kind durchläuft und alle Beteiligten manchmal an ihre Grenzen führen. Auch in schwierigen Phasen möchte das Kind stets geliebt und von seinen Eltern akzeptiert werden.

Eine gesunde Beziehung bedeutet für mich eine Zeit, in der das Kind seine Phasen, die es wegen seiner Gehirnentwicklung durchläuft, in Ruhe und Gelassenheit ausleben darf.
Man weiß heute natürlich, dass auf jeden Fall eine gesunde Bindung zur Vertrauensperson dem Kind Vertrauen in die Welt gibt. Und durch das gute Miteinander in der Familie lernen die Kinder Empathie, Resilienz, Durchhaltevermögen, Konzentration und ein gutes soziales Miteinander.
Das Kind entscheidet sich zum Beispiel in meinen Kursen selbst, wann es den elterlichen Schoß verlassen möchte, um zu spielen. Es entscheidet im Leben selbst, wann es später ausziehen möchte. Die Verantwortung, die zunächst komplett bei den Eltern liegt, verändert sich mit zunehmendem Alter, bis der junge Erwachsene die volle Verantwortung für sein Leben selbstständig trägt.
Die Zeit bis dahin ist nicht immer einfach. Kinder möchten mehr eigenständig machen und entscheiden, und das ist nicht immer im Sinne der Eltern.
Wo, wann und wie kommuniziere ich mit meinem Kind, das mit seinem Wunsch gerade zu weit von meinem entfernt ist, und wie spreche ich das Kind/den Jugendlichen/den jungen Erwachsenen in den verschiedenen Altersspannen an? Wann sollte ich Abstand halten? Wann sollte ich wie welche Fragen stellen, und wann gebe ich eine klare Auskunft und setze meine Grenzen deutlich ab?

„Kinder brauchen in jedem Alter den Halt ihrer Eltern, um zu wachsen und zu ihrer Autonomie zu finden.“

Alice Miller schreibt in einem ihrer Bücher (Zitat aus „Ich, du und wir“) zum Beispiel, dass Jugendliche, die mit Laissez-faire oder in Autorität erzogen wurden, später beide unsichere Erwachsene werden. Ihnen fehlt der Halt, die sichere Bindung an die Eltern und die ehrliche, klare Kommunikation im Dialog. Alice Miller hat dies vor Jahrzehnten geschrieben, doch es ist immer noch sehr aktuell. Sie schreibt vom „Halt geben und loslassen“, sowie über „die Klarheit in der Kommunikation“.

Heute ist oft ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Kind und Eltern zu beobachten, was an sich ja nicht schlecht ist, doch möchten die Kinder eine gewisse Klarheit von den Eltern bekommen, um zu wissen, wie die Welt funktioniert. Jesper Juul schreibt über die Leuchttürme, die Eltern für ihre Kinder sind.
Beides sagt für mich aus, dass die Beziehung und das dadurch gewonnene Vertrauen der Kinder in den Erwachsenen ihnen den nötigen Halt gibt, um die schwierige Zeit des Heranwachsens zum Erwachsenen zu meistern. Freunde finden sie außerhalb des Hauses, zu Hause finden sie ihre Leuchttürme, ihre Richtungsweiser, Ihre Vertrauensbasis, ihre Reibungsfläche und vieles mehr. Natürlich stellen sie ab einem gewissen Alter vielleicht auch die Beziehung zu ihren Eltern infrage, bzw. ihre Eltern an sich. Für mich persönlich dürfen sie das natürlich tun. Denn wie soll man sonst erwachsen werden, wenn man die Vertrauenspersonen nicht auch mal unter die Lupe nehmen darf?

Wenn ich so zurückblicke, weiß ich, dass ich mir viele Fragen am Anfang nicht gestellt habe. Ich genieße inzwischen den stetigen Aufbruch in etwas Neues. Denn jedes Jahr, sogar jeden Tag gibt es etwas Neues zu lernen. Für mich bedeutet es, offen für das Neue zu sein, denn wenn ich nicht offen bin und es Zulassen kann, kann ich nichts von meinem Gegenüber, meinen Kindern, sehen.
Das sind ein paar persönliche Erfahrungen, die ich gemacht habe und machen durfte.

Claudia Goudemond,
Bewegungspädagogin, PiklerPädagogin

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Artikel aus der Elternzeitschrift „baby info“ 02/2023