Die Kinder möchten doch so gerne spielen

Beitrag unserer Pikler Pädagogin Claudia Goudemond
Dieser Artikel kann auch als PDF heruntergeladen werden (klick).

Die Kinder möchten doch so gerne spielen

Warum sie das so gerne tun und wir ihnen am besten den Freiraum dafür zur Verfügung stellen sollten.

Emmi Pikler schrieb unter anderem folgendes dazu: „Wesentlich ist, dass das Kind möglichst viele Dinge selbst entdeckt.                                                  

Wenn wir ihm bei der Lösung aller Aufgaben behilflich sind, berauben wir es gerade dessen, was für seine geistige Entwicklung das Wichtigste ist. Ein Kind, das durch selbstständige Experimente etwas erreicht, erwirbt ein ganz andersartiges Wissen als eines, dem die Lösung fertig geboten wird.“

Viele Eltern möchten ihre Kinder gerne fördern und oftmals wird didaktisch und methodisch sinnvolles gekauft, um dem Kind die beste Möglichkeit zu seiner Entfaltung zu bieten. Ist das, was der Spielzeugmarkt zu bieten hat, „wirklich“ das Beste, oder reichen auch Alltagsmaterialien, um damit zu spielen?

Warum sollten wir die Kinder nicht einfach in einer vorbereiteten, sicheren Umgebung mit Dingen spielen lassen, die uns umgeben?

Natürlich möchten wir auch gerne mit dem Kind spielen. Manchmal sagen wir ihm, was und wie es mit diesem oder jenem Gegenstand umgehen kann oder was es damit machen könnte. Wie z. B.: „Du kannst den Klotz auf den größeren bauen, dann fällt der Turm nicht um. Schau, wenn du das so drehst, öffnet sich der Deckel der Flasche. Wenn du deinen Fuß dorthin setzt, kannst du besser darüber klettern. Du kannst die Schüssel in diese stecken, dann passt es wieder.“

Das geschieht automatisch im Alltag. Wir möchten gerne helfen und sind uns gar nicht so bewusst darüber, ob es wirklich hilfreich für unser Kind ist.

Manchmal benötigt es vermehrt Geduld von uns, um einfach nur da zu sein und dem Kind zuzuschauen, was es tut. Wir können sehen, dass das Kind versucht, die Tätigkeit, mit der es gerade beschäftigt ist, immer wieder zu wiederholen. Fällt der Turm um, scheint es ihm gar nichts auszumachen. Das Kind beginnt wieder von vorn und startet eine neue Versuchsreihe, oder lässt alles liegen und sucht sich etwas anderes. Für sein Spiel und seine Bewegungs- und Kletterversuche benötigt das Kind, die vertrauensvolle Beziehung zu seiner Bezugsperson.

Kinder möchten gerne gesehen werden in dem, was sie tun.

Das bedingungslose Zuschauen ist nicht unbedingt sehr leicht für uns Erwachsenen, doch können wir ebenfalls in diesen „Flow des Schauens“ gelangen, wenn wir uns darauf einlassen und wirklich beobachten, was das Kind gerade tut. Erst wenn wir das Spiel mit tiefer Intensität sehen, können wir erkennen, was das Kind nun eigentlich macht. Es bewegt einen Gegenstand vor seinen Augen, es lässt ihn fallen, hebt ihn auf, legt ihn irgendwo hinein, nimm ihn wieder heraus, rüttelt und schüttelt ihn, versucht Schüsseln ineinander zu stellen, reiht sie nebeneinander usw.

Doch was bedeutet das jetzt?

Das Kind ist die ganze Zeit am Experimentieren. Was passt zueinander und was nicht, welche Menge habe ich in der Hand und welche in der Schüssel? Wie transportiere ich diese? Das Kind widmet sich also die ganze Zeit seinen eigenen bewussten oder unbewussten Fragen und verfolgt sie mit großem Interesse. So bekommt es nebenbei und ganz natürlich, Einsichten in die Physik und Mathematik. Diese Erkenntnisse zu erlangen, beschäftigt das Kind sehr, sehr lange.

Abgesehen von den Thematiken, die Kinder erforschen, lernen sie noch ganz viel anderes, was wir sie nicht so gut lehren können, wie sie sich selbst.

Sie lernen unter anderem das Lernen, sie lernen Ausdauer im Ausprobieren, sie lernen Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit. Sie sind unermüdlich in ihrem Forschungsgeist und sind zielstrebig. Manchmal machen sie eine Pause. Diese äußert sich durch vermehrte Bewegung und/oder in der Ruhe. Das wiederum unterstützt die Kinder in ihrer Selbstregulation.

Sie lernen Geduld.

Unter anderem fühlen sie sich durch unser Zuschauen wertgeschätzt. Unsere Präsenz ihnen gegenüber zeigt ihnen uneingeschränktes Vertrauen. Das ist sehr wertvoll für ein Kind.

In einer schnelllebigen Welt wie heute, mit Reizüberflutungen und schier endlosen Spiel(zeug)angeboten ist es sehr wertvoll unseren Kindern zu zeigen, dass die Qualität darin liegt, innezuhalten und sich intensiv mit etwas zu beschäftigen.

Selbstbestimmtes Spiel:

„Viele Eltern denken, dass man das Kind lehren muss, wie es mit einem Spielzeug umzugehen hat. Auch in den Kreisen von Fachleuten ist die Ansicht weit verbreitet, dass man die Spieltätigkeit des Kindes nutzen muss, um seine Fähigkeiten zu fördern, seine Kenntnisse zu erweitern sowie die Bindung zwischen Bezugsperson und Kind zu vertiefen. Die Vertreter dieser Anschauung rechnen nicht damit, dass die verschiedenen Förderstrategien, auch die weniger aufdringlichen, das Kind ungewollt damit konfrontieren, was es kann und was es noch nicht beherrscht, was es weiß und was es nach Ansicht des Erwachsenen schon wissen müsste.“

Aus dem Buch: Pikler Ein Theorie- und Praxisbuch für die Familienbildung Seite 38.

Claudia Goudemond
Bewegungs-Pädagogin, Pikler-Pädagogin und Mitarbeiterin der Initiativ Liewensufank.

Aus der Rubrik „Babys und Kleinkinder“ unserer Elternzeitschrift „baby info“ 1/2023


Literatur zum Thema

Pikler: Ein Theorie- und Praxisbuch für die Familienbildung
Astrid Gilles-Bacciu, Reinhild Heuer, Beltz Juventa, Edition, 2019, ISBN 978-3779939894

Spielen ist Lernen – Anregungen zur Frühpädagogik in Kindergruppen
Monika Aly /Anja Werner/Anke Zinser, ISBN 978-3-9808431-5-7, 2. Auflage 2019.

Von den Anfängen des freien Spiels
Eva Kálló/Györgyi Balog, ISBN 978-3-9808431-14-0, 6. Auflage 2020.

Täglich etwas Neues – Ein Handbuch für Eltern und Erziehende auf Grundlage der Pikler Pädagogik
Monika Aly,  Berlin 2021, ISBN 978-3-9822887-1-0   überarbeitete Neuauflage von „Mein Baby entdeckt sich und die Welt“